DER GRÜNE ESEL

Wie oft weis nicht ein Narr durch thörigt Unternehmen
Viel tausend Thoren zu beschämen!

Neran, ein kluger Narr, färbt einen Esel grün,
Am Leibe grün, rot an den Beinen,
Fängt an, mit ihm die Gassen durchzuziehn;
Er zieht, und jung und alt erscheinen.
Welch Wunder! rief die ganze Stadt,
Ein Esel, zeisiggrün! der rothe Füße hat!
Das muß die Chronick einst den Enkeln noch erzählen,
Was es zu unsrer Zeit für Wunderdinge gab!
Die Gassen wimmelten von Millionen Seelen;
Man hebt die Fenster aus, man deckt die Dächer ab;
Denn alles will den grünen Esel sehn,
Und alle konnten doch nicht mit dem Esel gehn.

Man lief die beiden ersten Tage
Dem Esel mit Bewundrung nach.
Der Kranke selbst vergas der Krankheit Plage,
Wenn man vom grünen Esel sprach.
Die Kinder in den Schlaf zu bringen,
Sang keine Wärterinn mehr von dem schwarzen Schaf;
Vom grünen Esel hört man singen,
Und so geräth das Kind in Schlaf.

Drey Tage waren kaum vergangen:
So war es um den Werth des armen Thiers geschehn.
Das Volk bezeigte kein Verlangen,
Den grünen Esel mehr zu sehn.
Und so bewundernswerth er anfangs allen schien:
So dacht itzt doch kein Mensch mit einer Sylb an ihn.

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Ein Ding mag noch so närrisch seyn, Es sey nur neu, so nimmts den Pöbel ein.
Er sieht, und er erstaunt. Kein Kluger darf ihm wehren.
Drauf kömmt die Zeit, und denkt an ihre Pflicht,
Denn sie versteht die Kunst, die Narren zu bekehren,
Sie mögen wollen, oder nicht.

Schreibweise der Erstveröffentlichung von 1746