LEBEN UND WERK C. F. GELLERTS
Dr. Rafael Arto-Haumacher, 1995
Verehrt – verkannt – vergessen
Der Tumult, den Leipzig in den Dezembertagen vor Weihnachten 1769 erlebt, ist selbst für die führende kulturelle Metropole im Deutschland des 18. Jahrhunderts neu: Der Rat der Stadt muss darüber nachdenken, das Gelände des Johannisfriedhofs zu sperren. Menschenmassen zuvor nicht gekannten Ausmaßes pilgern über den Friedhof, zertrampeln die Gräber und beginnen, den Grabhügel eines soeben Beerdigten abzutragen; zu Andenkenzwecken. Das Grab, dem diese fanatische Aufmerksamkeit gilt, ist das des Dichters Christian Fürchtegott Gellert.
Gellert war einer der meistgelesenen Autoren des 18. Jahrhunderts. Angeblich wurde kein Buch zu jener Zeit öfter zur Hand genommen als seine »Fabeln und Erzählungen« (1746/48), die Bibel ausgenommen. Grundstein seines Erfolgs war, dass er sich von der Dichtung für ein gelehrtes Publikum abwendete und einfache, für jedermann verständliche Poesie verfasste. Seine Botschaft war typisch aufklärerisch: Er wollte »dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild ... sagen«. Das ist keinesfalls Überheblichkeit, sondern das Bestreben, vor allem den Mann auf der Straße zu erreichen. Wie seine aufklärerischen Dichterkollegen begriff Gellert Literatur als wesentliches Element gesellschaftlicher Praxis, als Instrument, mit dessen Hilfe dem Publikum Werte und vorbildliche Handlungsmuster vermittelt werden konnten.
Die Fabeln waren Meilenstein in mancherlei Hinsicht. Das Werk verschaffte nicht nur einem deutschen Dichter erstmals breite Anerkennung im ganzen europäischen Ausland; zugleich markiert es die erste große Fehlentscheidung in der Buchhandelsgeschichte. Der Leipziger Verleger Breitkopf, der später durch die Erfindung des Notendrucks bekannt werden sollte, lehnte das angebotene Manuskript ab: uninteressant, nicht verkäuflich, eine Entscheidung, die Breitkopf nur wenig später bereut haben dürfte, denn die Fabeln, schließlich verlegt von Johann Wendler, stellten sich als erster großer Verkaufserfolg der Verlagsgeschichte überhaupt heraus und machten Wendler zum reichen Mann.
Bis hierhin wird deutlich: Der Versuch, Gellerts Leben, Werk und Wirkung darzustellen, ergeht sich zwangsläufig in Superlativen. Umso erstaunlicher scheint es, dass ein Autor, der zwei Jahrzehnte das literarische Leben seiner Zeit beherrschte und prägte, heute nahezu vergessen ist. Vereinzelte Fabeln finden sich zwar noch in den Lesebüchern zum Deutschunterricht, einige seiner geistlichen Lieder haben im evangelischen Gesangsbuch überlebt, doch das Wissen um die außerordentliche literarische und kulturgeschichtliche Wirkung Gellerts verblasst.
Geboren wird Gellert am 4. Juli 1715 im sächsischen Hainichen als Sohn eines Pfarrers. Von den zwölf weiteren Geschwistern sterben fünf schon früh. Die Jugendzeit ist hart. Einschränkungen gewöhnen den jungen Gellert, mit dem Nötigsten zurechtzukommen. Doch was der Vater Gellerts seinen Sprösslingen an materiellen Dingen nicht bieten kann, sucht er zumindest durch Bildung auszugleichen: Er schickt Gellert auf die bekannte Fürstenschule St. Afra in Meißen, wo der Sohn zum ersten Mal mit der muttersprachlichen Dichtung in Berührung kommt. Nach Meißen beginnt Gellert ein Studium der Theologie in Leipzig und hört auch Vorlesungen anderer Disziplinen, bis ihn der Vater nach Hainichen zurückordert, er kann das Studiengeld für seinen Sohn nicht weiter aufbringen. Die Fortsetzung seines Studiums finanziert Gellert durch Erteilung von Privatstunden und Betreuung junger Adliger.
Nach seinen Studienjahren und der Tätigkeit als Privatdozent wird Gellert 1751 zum außerordentlichen Professor für Moral und Beredsamkeit an die Leipziger Universität berufen. Und es sind – ungewöhnlich genug – weniger seine akademischen Leistungen, denen er den Posten zu verdanken hat, als vielmehr sein Ruhm als Fabeldichter und Volksaufklärer, wie das erhaltene Berufungsgutachten belegt. Jener Ruhm setzt sich im Hörsaal fort. So berichtet sein Biograf und Freund Johann Andreas Cramer, dass sich zeitweise bis zu 500 Zuhörer, aus allen Teilen Europas, Bürgerliche wie Adlige, in Gellerts Vorlesungen drängten; eine unglaubliche Zahl für damalige Verhältnisse.
Als Gellert sein akademisches Amt antritt, ist sein literarisches Oeuvre praktisch abgeschlossen. Nach seinen Fabeln , denen verstreute Beiträge in der Zeitschrift »Belustigungen des Verstandes und des Witzes« vorausgingen, hatte Gellert den Roman »Leben der Schwedischen Gräfin von G***« (1747/48), eine Lustspielsammlung (1747) sowie »Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen« (1751), einen Briefsteller, veröffentlicht. Die Gräfin gilt als der erste empfindsame Roman, in dem die Bewährung bürgerlich-moralischen Handelns präsentiert wird und der einen beträchtlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Briefromans nimmt. Seine Lustspiele, von denen eine direkte Verbindung zu den bürgerlichen Trauerspielen Lessings besteht, führen erstmals ein bürgerliches Figurenpersonal und ein kleinbürgerliches Familienmilieu in die deutsche Literatur ein. Im Briefsteller schließlich, Gellerts bedeutsamstem kulturgeschichtlichen Werk, lehnt er den schwulstigen, formelhaften und von höfischen Konventionen geprägten Briefstil ab und tritt für die natürliche geschmackvolle Umgangssprache im Brief ein. Das Schreiben wird zur Sache von jedermann, vor allem der Frauen. Den breiten Anklang, den dieses Werk findet, macht den Fabeldichter zum begehrten Korrespondenzpartner: Aus allen Teilen der Bevölkerung wird er in moralischen und literarischen Fragen um Rat gebeten, vermittelt Pastoren- und Erzieherstellen.
Nach dem Briefsteller beabsichtigt Gellert, seine literarische Produktion ganz einzustellen. In mehreren Briefen an Freunde, darunter Johann Adolf Schlegel, Vater der bekannten Romantiker Friedrich und August Wilhelm, klagt er, seine poetische Ader sei versiegt. Grund hierfür ist sicherlich sein labiler Gesundheitszustand. Gellert leidet an Hypochondrie, der Modekrankheit des 18. Jahrhunderts, die ihn häufig zur Unterbrechung seiner Arbeit zwingt. Aber auch das Auseinanderbrechen des literarischen Freundeskreises, der Bremer Beiträger , dessen Rückhalt und kollegiale Hilfe für Gellert fast existentiell waren, hat Anteil an der Verkümmerung seiner Schaffenskraft. Alle Werke, die nunmehr noch erscheinen, verdanken ihre Publikation äußeren Umständen, sind nicht mehr durch das Gefühl des Berufenseins motiviert. Die »Lehrgedichte und Erzählungen« (1754) sind eine Zusammenstellung von älterem, überarbeitetem Material, das er veröffentlicht, da er Geld für erforderliche Kuren braucht. Auch in seiner »Sammlung vermischter Schriften« (1756), einer Reaktion auf einen unrechtmäßigen Fabeldruck, verwendet Gellert vornehmlich älteres Material. Die »Geistlichen Oden und Lieder« (1757), die später Musiker wie Ludwig van Beethoven, Joseph Haydn, Carl Philipp Emanuel Bach oder Johann Adam Hiller zu Vertonungen anregen sollten, erscheinen während des Siebenjährigen Krieges, als Gellert die Kompensation der Kriegserlebnisse in gesteigertem Arbeitseifer sucht.
Gellert beginnt 1768 die Korrekturarbeiten anlässlich seiner Werkausgabe, die Philipp Erasmus Reich, seit 1756 sein neuer Verleger, plant. Doch der Dichter, von Krankheit gezeichnet und durch Skepsis seinen älteren Werken gegenüber verunsichert, überlässt die Korrektur im weiteren Verlauf Freunden. Die Herausgabe beginnt im Sterbejahr des Dichters und Erziehers. Nach seinem Tod erscheinen eine Briefsammlung (1774), die die Nachlassverwalter Johann A. Schlegel und Gottlieb L. Heyer aus Gellerts Notizen, Manuskripten und Briefen zusammengestellt hatten, und die »Moralischen Vorlesungen«, Gellerts Vermächtnis, die, wie die in einer Abschrift aufgetauchten Tagebuchaufzeichnungen Reichs dokumentieren, bis Ende der 1780er Jahren in nahezu 50.000 Exemplaren gedruckt werden. Die Zahl der unrechtmäßigen Drucke dürfte noch einmal so hoch liegen.
Der Erfolg Gellerts und die Legendenbildung um seine Person mussten zwangsläufig Kritik hervorrufen. Zu Lebzeiten allerdings hat Gellert nur selten offen negative Reaktionen erfahren. Als Autor wie als Professor bot er wenig Angriffsfläche. Umso heftiger entbrennt die Gellertkritik unmittelbar nach seinem Tod, als der Mythos Gellert zugleich mit dem Tod der Person angreifbar wird. Nur kurz nach seinem Dahinscheiden werden die enthusiastischen Nachrufe von ebensolch unkritischen, aber aus der Zeittendenz heraus verständlichen Angriffen auf Gellert, sein Werk und seine Wirkung begleitet. Den Anfang machen 1771/72 zwei junge Literaten, Jakob Mauvillion und Ludwig A. Unzer, mit ihrem fingierten Briefwechsel »Über den Werth einiger deutscher Dichter«, in dem sie mit der alten Dichtergeneration schonungslos abrechnen, Gellert zu einem »sehr mittelmäßigen Schriftsteller … ohne einen Funken Genie« , zu einem Dichter für »Landpastorentöchter« degradieren. Seine Dichtung sei nichts als »fades Zeug«. Deutlich formulieren sie in ihrer Kritik die Standpunkte der sich formierenden Sturm und Drang-Bewegung, die mit der aufklärerischen Zweckdienlichkeit von Literatur, mit einer Dichtung als Medium für die moralisch-ästhetische Bildung nicht viel anfangen kann.
Nachdem Gellert in den zwei Jahrzehnten zuvor Entscheidendes zur literarischen Entwicklung und zur Volksaufklärung beigetragen hatte, lebt sein Name in den 1760er vor allem vom alten Ruhm und der Legende. Sein Verhängnis war es, dass er keinen Anschluss an die literarische Entwicklung, wie sie sich in den 1760er Jahren abzeichnete, gefunden hatte, ja nicht finden wollte. Gerade in der Einschätzung der zeitgenössischen Literaturentwicklung zeigt sich der nach wie vor gefeierte Dichter völlig rückständig. Seine eigene Dichtergeneration hält er für den Höhepunkt, er vermag vielversprechende Neuansätze in der zeitgenössischen Dichtung nicht zu erkennen.
Mittlerweile hat die germanistische Forschung diesen wichtigen Autor der Aufklärung wiederentdeckt. Neben einer wissenschaftlichen Werk- und Briefausgabe wurden zahlreiche Monografien und Zeitschriftenaufsätze veröffentlicht, die mannigfaltige Teilaspekte von Gellerts Werk und Wirkung offenlegen. Dabei wird schon längst nicht mehr über den ästhetischen Wert seiner Dichtung gestritten; im Mittelpunkt des Interesses stehen Gellerts praktische Wirkung auf das Publikum seiner Zeit wie seine literaturgeschichtliche Bedeutung.